Der Hase und der Hirsch

Hase und Hirsch warm alte Rivalen. Jedesmal, wenn sie sich irgendwo begegneten. versuchte der eine den anderen zu nasführen. Damals hatte der Hirsch noch kein Geweih, sondern einen glatten Kopf, ganz wie seine Frau. Beide, Hirsch und Hase bildeten sich viel auf ihre Geschwindigkeit ein, und jeder nahm für sich den Ruhm in Anspruch, der bessere Läufer zu sein. Die übrigen Tiere hatten bald genug von diesen Prahlereien und beschlossen, die beiden um die Wette laufen zu lassen, damit wenigstens einer von ihnen von da ab seinen Mund halten müsse. Lange Zeit war man sich uneinig, wer den beiden Rivalen den Vorschlag überbringen sollte, denn die meisten Tiere hatten mit dem Hasen schlechte Erfahrungen gemacht. Schliesslich jedoch erklärte sich ein Mann mit Namen Feuerstein bereit, dem Hasen die Einladung zum Wettlauf zu überbringen. Feuerstein war bei allen gefürchtet, denn er half den Menschen auf der Jagd. Selbst der Hase hatte Angst vor ihm und ging ihm am liebsten aus dem Wege.

Feuerstein machte sich auf, die Einladungen zu Überbringen und den beiden Läufern von dem schönen Preis zu berichten, den der Biber eigens zu diesem Zwecke geschnitzt hatte. Der Sieger sollte nämlich ein schönes Geweih erhalten, damit man schon von weitem sah, welch wichtige Persönlichkeit dort ankam. Feuerstein wanderte hinunter zum Flussufer, wo der Hase im braunen Gras seine Hütte hatte. Unterwegs jedoch traf er den Hirsch und bestellte diesem alles, was die Tiere ihm aufgetragen hatten. Der Hirsch war sogleich einverstanden und freute sich bereits auf den schönen Kopfschmuck, den er ganz bestimmt gewinnen würde.

Nach einer Weile sah Feuerstein den Hasen vor seiner Hütte in der Sonne sitzen. "Welch eine Ehre", sagte dieser, "einen Mann wie dich bei mir zu sehen. Ich bin wirklich überrascht. dass du von deinen Bergen heruntergestiegen bist, um mich hier zu besuchen." Darauf lud er seinen Gast ein, doch beim Feuer Platz zu nehmen. Feuerstein entledigte sich seines Auftrages und wollte sich sogleich wieder verabschieden. Aber der Hase bestand darauf, dass sein Gast bei ihm bleiben müsse. "Es ist beinahe Essenszeit", sagte er und fuhr fort: " Schliesslich kommt so ein Besuch ja nicht alle Tage vor."

Zögernd willigte Feuerstein ein, und sogleich begann der Hase das Essen aufzutragen. Nach der Mahlzeit streckte sich der Hase faul und schläfrig ins Gras und bat seinen Gast, es sich doch auch bequem zu machen. Feuerstein liess sich das nicht zweimal sagen, denn er war den ganzen Vormittag unterwegs gewesen, was sonst nicht seine Art war. Nach einer Weile begann der Hase an einem dicken Prügel zu schnitzen und ihn anzuspitzen. Feuerstein wunderte sich über diese Beschäftigung, doch der Hase erklärte, dass man die Zeit nützen müsse.

Bald war Feuerstein eingenickt, und als der Hase ihn anredete, um ganz sicherzugehen, erhielt er nur ein Schnarchen zur Antwort. Sogleich stand er auf, nahm einen schweren Holzklotz und nagelte die Skalplocke seines Besuchers mit dem angespitzten Prügel am Boden fest! Dann machte er sich schleunigst aus dem Staube, gerade als Feuerstein aufzustehen versuchte. Lange mühte sich der Gast, doch da er nicht auf die Füsse kommen konnte, platzte er schliesslich vor Wut, dass die Splitter nur so flogen. Den Hasen aber, der neugierig aus seinem Versteck zusah, traf ein Splitter direkt auf die Lippe, die seit dieser Zeit gespalten ist, wie jedermann sehen kann. Feuerstein hatte aufgehört zu sein, und seine Stücke finden sich überall im Lande, besonders aber am Flussufer, dort, wo der Hase daheim ist.

Am nächsten Morgen trafen Hirsch und Hase am verabredeten Platz ein, um miteinander um die Wette zu laufen. Gemeinsam bewunderten sie den Preis, den der Biber geschnitzt hatte. Dann erklärte der Hase: "Ihr sagt, dass ich zweimal durch diesen Buschwald laufen soll. Ich kenne die Gegend hier nicht, da wird es wohl am besten sein, wenn ich mich ein wenig umsehe, damit ich mich nachher nicht verirre." Die Tiere hatten nichts dagegen, so verschwand der Hase in den Büschen. Als er jedoch nach langer Zeit immer noch nicht zurück war, wurde das Eichhörnchen losgeschickt, um nachzusehen, wo denn der Hase abgeblieben sei. Wie erstaunt war aber das Eichhörnchen, als es den Hasen mitten im Gebüsch dabei ertappte, eine Gasse anzulegen. Sorgfältig nagte er einen Zweig nach dem anderen ab und räumte so alle Hindernisse aus dem Wege. Sofort berichtete das Eichhörnchen den Tieren und keckerte aufgeregt über so viel Unverschämtheit. Erbost forderte es die übrigen Zeugen auf, sich selbst zu vergewissern, dass der Hase sie schamlos betrügen wolle.

Da beschlossen alle Tiere einstimmig, dem Hirsch den Preis zu geben, denn durch sein Betrugsmanöver hatte ja der Hase zugegeben, dass der Hirsch schneller laufen konnte. Der Hirsch trägt seitdem ein Geweih, während der Hase dazu verurteilt wurde, weiterhin Zweige zu beknabbern und Gassen durchs Gebüsch zu bahnen. Der Hase sann seit dieser Begebenheit auf Rache, und nachdem sich der Hirsch an sein Geweih gewöhnt hatte, sah sein Rivale die Gelegenheit gekommen, dem Sieger einen Streich zu spielen. Auf dem Wechsel des Hirsches spannte der Hase eine dicke, zähe Waldrebe aus. Darauf nagte er dies Hindernis bis auf wenige Fasern durch. Als der Hirsch dazukam, war der Hase dabei, über die ausgespannte Hebe zu springen.

"Nanu, was machst du denn da?" fragte der Hirsch erstaunt. "Oh", erwiderte der Hase, "ich habe soeben herausgefunden, dass ich diese dicke Waldrebe mit einem einzigen Biss durchbeissen kann, und das, während ich darüberspringe. Meine Zähne sind eben stärker als deine kümmerlichen Kauwerkzeuge." Bei diesen Worten sprang der Hase über das ausgespannte Hindernis, zerbiss im Sprung die letzten Fasern der Ranke und drehte sich lächelnd nach dem Hirsch um.

"Nun, was du kannst, das kann ich auch", sagte dieser. "Spann eine Ranke über den Weg." Darauf nahm der Hase eine zweite Waldrebe, spannte sie Über den Weg und gab die Bahn frei für den Hirsch. "Einen tüchtigen Anlauf musst du schon nehmen, und vor allem fest zubeissen, sonst wirst du es nicht schaffen", stichelte er, "aber wahrscheinlich schaffst du es sowieso nicht."

Der Hirsch nahm einen gewaltigen Anlauf, biss sich in der zähen Ranke fest und fiel prompt auf den Rücken. "Hahahahaha", lachte der Hase und hielt sich die Seiten, "und du willst gute Zähne haben! Lass mich doch mal sehen, was du da im Maule trägst." Noch etwas benommen öffnete der Hirsch seinen Äser und liess den Hasen die langen, scharfen Zähne bewundern.

"Natürlich! Mit solchen Dingern kannst du nicht richtig beissen ", sprach dieser. «Sieh dir mal meine Zähne an, klein aber scharf." Der Hirsch musste zugeben, dass die Zähne des Hasen viel kleiner waren, und er war ausserdem überzeugt, dass sie auch wohl schärfer sein müssten, denn der Hase hatte doch vor seinen Augen die Waldrebe durchgebissen.

"Weisst du was?" fragte der Hase. "Wir werden deine Zähne kleiner und schärfer machen. Du musst nur dein Maul aufhalten und den Rest mir Überlassen." Damit nahm der Hase einen Stein mit rauhen Kanten, lächelte beruhigend und begann, dem Hirsch die Zähne abzufeilen. Bald waren nur noch die Stümpfe vorhanden, und der Hirsch beklagte sich, dass es zu schmerzen beginne. "Keine Angst", sagte der Hase, "wenn es weh zu tun beginnt, fängt die Schärfe an. Gleich bin ich fertig, dann kannst du dich selbst überzeugen."

Der Hirsch wollte seine neuen Zähne sogleich ausprobieren, doch der Hase erklärte, dass er eine dickere Waldrebe suchen müsse. Damit verzog er sich vom Schauplatz seiner Schandtat und machte sich auf den Heimweg. Der Hirsch aber hat seit dieser Zeit stumpfe Zähne, und an den Stellen, an denen der Hase zuviel abgefeilt hatte, hat er überhaupt keine Zähne mehr.

Lange Zeit war der Hirsch zu erbost über solchen Betrug, um den Hasen auch nur eines Blickes zu würdigen, und auch dieser hatte allen Grund, dem Hirsch aus dem Wege zu gehen. Eines Tages jedoch, als der Hirsch bei der Mahlzeit war, bemerkte er den Hasen auf der gleichen Lichtung. Sogleich forderte er seinen Rivalen auf, mit ihm um die Wette zu springen. Nun war der Hase weit und breit als guter Springer bekannt. daher willigte er sofort ein. Der Hirsch zeigte auf einen grossen Stein und sprach: "Darüber wollen wir gemeinsam springen; wer gewinnt, soll mein Geweih bekommen."

Der Hase sah hier eine günstige Gelegenheit, auf diese Weise doch noch zu einem Kopfschmuck zu kommen, und war einverstanden. Gleichzeitig rannten sie auf den Stein zu, und mit mächtigem Satz sprang der Hase darüber hinweg - geradewegs in den dahinter fliessenden Strom! Der Hirsch jedoch war nur auf den Stein gesprungen und sah mit Freuden, wie sein Feind diesmal selber hereingefallen war. Während der erboste Hase vom Wasser fortgetrieben wurde, begab sich der Hirsch zufrieden zu seiner unterbrochenen Mahlzeit.

Mühsam rappelte sich der Hase stromabwärts aus dem Wasser, wo gerade der Fischotter am Ufer sass. "Nanu, Freund Hase, seit wann gehst du denn fischen?" Der Hase, der seinen Reinfall nicht eingestehen wollte, behauptete, dass er regelmässig auf die Entenjagd ginge, sich aber aus Fischen wenig mache.

"Nun, Enten sind auch eine gute Mahlzeit", sprach der Fischotter. "Sieh, dort schwimmen einige Erpel. Komm, lass uns gcmeinsam jagen."

Der Hase hatte wenig Lust, noch einmal ins Wasser zu steigen, und schickte den Otter vor, es zuerst doch einmal allein zu versuchen. Der Otter tauchte, ergriff eine der Enten, zog diese lautlos unter die Oberfläche und erschien wieder am Ufer, wo er dem Hasen seine Beute zeigte. Dieser hatte inzwischen ein Lasso verfertigt, warf es nach den Enten und hatte Glück. Zwei Enten verfingen sich und flogen mit lautem Gequake auf. Der Hase musste wohl oder übel festhalten, wurde mit in die Luft genommen und sah sich bereits weit über dem See ins Wasser fallen. Da liess er lieber noch über dem Flusse los. Mit grossem Getöse fiel er ins Schilf, wo kurz darauf der Fischotter bei ihm auftauchte. "Nun", sprach dieser, "wo sind die Enten?" Der Hase erklärte ihm, dass er losgelassen habe, da er nicht auf den See hinausgetragen werden wollte. "Ich kenne die Gegend hier herum, so viel Wasser ist mir unheimlich." Der Otter aber erwiderte mit einem Lächeln: "Wie mir scheint, ist deine Jagdmethode zwar neuartig, aber wenig erfolgreich. Ich würde an deiner Stelle bei Blättern bleiben." Und diesen Rat hat der Hase bis heute auch streng befolgt.

Quelle: Märchen der nordamerikanischen Indianer, rororo-Verlag (Reihe Diederichs Märchen der Weltliteratur)

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