Der Löwe und der Hase

Es war einmal im Lande Hindustan eine schöne Gegend, von der die Menschen nichts wussten. Quellen sprudelten dort, viel Gras wuchs und ein grosser Wald war da. In diesem Walde lebten die wilden Tiere, deren König der Löwe war. So oft er nur wollte, ging er auf die Jagd und frass den von seinen Untertanen auf, der ihm gerade in die Quere kam. Die Tiere erschraken jedesmal furchtbar, wenn der Löwe sich erhob, und hatten keine Ruhe. Da versammelten sich die Tiere eines Tages und hielten Rat miteinander. "Brüder", sagte einer der Versammelten, "dieser Löwe ist nun einmal unser König und er frisst den von uns jeden Tag auf, der das Los werfen würde.

Durch Los wird dann der bestimmt, der zum König geschickt werden soll. Die anderen sind dann wenigstens frei von Furcht und Sorge." Dieser Rat gefiel allen sehr gut. Man schrieb eine Bittschrift an den Löwen und bat um seine gnädige Entscheidung.

Dem Löwen gefiel die Sache durchaus; er liess die Tiere wissen, er wolle ja nur seine tägliche Nahrung, und als König wolle er auch nicht, dass seine Untertanen sich jeden Tag ängstigten.

Man bestimmte fortan, also durch das Los, wer zum König zu gehen hatte. Der wurde dann vom König mit Haut und Haaren gefressen. Das dauerte nun schon einige Zeit, so kam auch einmal der Hase an die Reihe. Dem Hasen aber passte das Gefressenwerden gar nicht. Er versuchte daher, seine Leidensgefährten aufzustacheln.

"Brüder", sagte er, "sind wir nicht ganz dumme Tröpfe, dass wir uns vom Löwen freiwillige fressen lassen? Wir könnten ja versuchen, den Löwen zu übertölpeln, damit wir seine Herrschaft loswerden."

Die Tiere hörten sich zwar die Rede des Hasen an, aber die einen lachten ihn aus und die anderen meinten, er sei wohl ganz übermütig geworden. Wie könne er als kleines Geschöpf es denn wagen, sich mit dem Löwen messen zu wollen. Der Hase aber gab keine Antwort. Als am nächsten Tage die Reihe an ihn kam, gefressen zu werden, ging er einfach nicht hin.

Der Löwe wurde furchtbar böse und wollte schon den ganzen Vertrag zerreissen, aber er überlegte es sich im letzten Augenblick noch einmal. Er fürchtete nämlich, die anderen Könige könnten ihm Übereilung vorwerfen. Erst spät, gegen Mittag erst, erschien der Hase. Ehrerbietig kreuzte er die Pfoten auf der Brust und wünschte dem Herrscher einen guten Tag.

"Möge Gott dem mächtigen König der Tiere ein langes Leben schenken", sagte der Hase. Der König fragte ihn, wie es all seine Untertanen gehe.

"Heil dir, o König der Tiere", gab da der Hase zur Antwort, "heute früh ist etwas Unglaubliches passiert. Als man mit mir noch einen Hasen für dich zum Frühstück wegschickte, wurde mein Geselle von einem Löwen geraubt. Wir waren nämlich gerade auf dem Weg zu dir, da begegnete uns ein fremder Löwe und fragte uns, wohin wir gingen. Wir antworteten ihm der Wahrheit gemäss und sagten, wir seien heute das Frühstück für den König. Der fremde Löwe aber nahm meinen Gesellen mit sich. Ich selbst getraue mich nicht, hoher Herrscher, die Beschimpfungen zu wiederholen, die er gegen dich ausgestossen hat."

Der sprang vor Erregung auf bei dieser Erzählung und schrie: "Ja, gibt es denn hier noch einen Höheren als mich? Dieses Land gehört mir, und niemand soll es wagen, meine Untertanen anzurühren."

Der Hase nickte eifrig mit dem Kopfe bei diesen Worten.

"Kannst du mir den Burschen zeigen?" fragte der Löwe, der sich in immer grösserer Wut hineinsteigerte.

"Das kann ich", antwortete der Hase und führte den Löwen zu einen tiefen, tiefen Brunnen.

"Herr König, näher traue ich mich da nicht heran, denn da drinnen wohnt er. Bin ich doch heute morgen schon so erschrocken, als wir den Löwen trafen. Wenn du mich aber unter deine Achsel nehmen willst, so will ich ihn dir schon zeigen."

Der Löwe war zu allem entschlossen, nahm den Hasen unter die Achsel und setzte die Vorderfüsse auf den Rand des Brunnens. Und siehe, er erblickte sein Bild im Wasser mit dem Hasen. Der Löwe glaubte aber, es sei sein Nebenbuhler mit dem Hasen, den er ihm am Morgen gestohlen hatte. Da liess er den Hasen unter der Achsel fahren und sprang mit Gebrüll in den Brunnen. Dort ertrank er. Und so geht es allen, die nur auf ihre Kraft vertrauen und alle Vorsicht ausser acht lassen.

Quelle: http://www.fantasten.de/kaukas13.htm

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