Der kleine Hase

Es war einmal eine alte Frau, die hatte einen kleinen Hasen zum Sohn. Solange ihr Mann noch lebte, hatte sie Überfluss an allen Dingen, nach seinem Tode aber verarmte sie so sehr, dass sie nichts mehr zu essen hatte. Trotz aller Vorstellungen seiner Mutter lebte das kleine Häschen seiner Natur gemäss in freier Luft. Ausser diesem Sohn besass die Alte noch ein knöchernes Messer, das ihr der kleine Hase abzulocken versuchte.

"Wozu hast du das Messer nötig?" sagte die Mutter, "du bist ja noch so klein, dass du noch nicht auf die Jagd gehen kannst."

Lächelnd entgegnete ihr der kleine Hase: "Wie kannst du das wissen! Vielleicht werde ich doch etwas von der Jagd heimbringen."

So lebte denn der kleine Hase ziemlich lange draussen mit seinem knöchernen Messerchen.

Eines Tages war ihnen sämtliche Nahrung ausgegangen, und sie hatten nichts zu essen. Da lief bei ihrem Hause ein junger Wolf vorüber. Der kleine Hase lief ihm entgegen, begrüsste ihn und schlug ihm vor zu spielen; wer den andern zu Boden würfe, sollte das knöcherne Messerchen erhalten und damit dem andern den Bauch aufschlitzen. Auf solch ein lustiges Spiel wollte sich der kleine Wolf anfangs nicht einlassen, doch bedachte er sich, und da er annahm, dass ihm auf jeden Fall der Sieg zuteil werden würde, willigte er ein. Natürlich warf der kleine Wolf den kleinen Hasen sofort zu Boden und wollte schon das Messer nehmen, um ihm den Bauch aufzuschlitzen. Da sprach der kleine Hase zu ihm:

"Was fällt dir ein! Hast du denn wirklich geglaubt, dass ich dir in allem Ernst dies Spiel vorgeschlagen habe! Und ausserdem, weshalb willst du mir das Leben nehmen?"

Der kleine Wolf hatte noch keine Lust, ihm den Garaus zu machen, sondern wollte noch ein Weilchen mit ihm spielen und ihn dann erwürgen. Er fing also an, sich mit ihm zu wälzen und zu spielen. Der kleine Hase aber griff, als er sich über dem Wolfe befand, zu seinem knöchernen Messerchen. Nun fing der kleine Wolf an, den kleinen Hasen um Schonung anzuflehen, der aber gab ihm zur Antwort:

"Weshalb, Bruder, sollte ich dich schonen! Mir ist schon lange vor Hunger ganz dunkel vor Augen."

Mit diesen Worten tötete der kleine Hase den kleinen Wolf und schleppte ihn nach Hause zu seiner Mutter. Da lebten denn die beiden eine Zeitlang trefflich, sie verzehrten das fette Fleisch des kleinen Wolfes, nachdem sie ihn in Stücke geschnitten und einen Teil gekocht hatten.

Nun wollte die Mutter des kleinen Hasen den Kopf des Wolfes in der Vorratskammer verwahren, der kleine Hase aber hiess sie, ihn auf dem Hofe aufstellen. Die Mutter warnte ihn zwar, es sei nicht gut, man könne den Kopf leicht erblicken, der kleine Hase aber hörte nicht auf sie.

Einige Zeit darauf, als sie mit dem kleinen Wolfe schon ganz zu Ende waren, fand dessen Mutter nach vielem Suchen endlich den Kopf ihres Sohnes, kam zu dem kleinen Hasen und fragte ihn, wer wohl ihren Sohn getötet haben könnte.

Stolz antwortete der kleine Hase: "Ich habe ihn getötet."

Anfangs wollte die Wölfin es nicht glauben, allein der kleine Hase drohte, auch ihr den Garaus zu machen. Da meinte sie, dass sie wohl eher ihn umbringen könne.

"Vielleicht", entgegnete der kleine Hase, "wenn du mit deiner Rotte kommst."

Über solche Keckheit erschrak die Wölfin wirklich und ging ihre Rotte holen. Als sie heimkam, überredete sie den Bären sowie einige Füchse und Wölfe, ihr zu folgen, und ging mit ihnen hin, um den kleinen Hasen zu töten. Bevor sie jedoch ins Haus traten, sprach der Bär zu den anderen:

"Warum sollen wir ihn gleich töten? Seine Vorratskammern sind gut verschlossen, und wie werden wir dann, wenn wir ihn umbringen, auch nur einen Bissen Fett erlangen können? Es ist besser, wir lassen uns erst von ihm füttern und töten ihn hernach."

Als der kleine Hase die Rotte erblickte, benachrichtigte er sogleich seine Mutter, sie solle sofort aus der Hütte gehn, sonst komme sie in Gefahr; er schickte sie nach Fett in der Vorratskammer; er selbst aber trat unterdessen vor die Tür und begrüsste seine Feinde. Der Bär hielt es für seine erste Pflicht, nach dem Fett des getöteten kleinen Wolfes zu fragen, der kleine Hase aber bat sie einzutreten und versprach ihnen, sogleich das Fett aus der Vorratskammer zu holen. Als die Gäste alle in der Hütte waren, verschloss der kleine Hase die Tür und warf seinen ganzen Vorrat an Fett durch das Dach auf den Herd hinunter; das Fett geriet auf dem Feuer in Flammen, und da die Hütte ohne Fenster war, und er auch noch die Öffnung über dem Herde bedeckt hatte, wurden ihnen alle Gäste zur Beute. So fing denn der kleine Hase wiederum an, mit seiner Mutter trefflich zu leben, und sie brieten alle Tage fettes Fleisch.

Nun hatte die Mutter des kleinen Hasen einen reichen Bruder, der in der Nähe wohnte. Eines Tages ging dem das Fleisch aus, und er bat seine Schwester, ihm auszuhelfen. Sie sagte es ihm zu, doch da das Fleisch nicht durch die Tür ging, wollte sie es ihm durch den Rauchfang reichen und hiess ihn, von oben einen Strick herabzulassen. Als er das tat, und sie ihn daran ziehen hiess, zog und zog er den Strick, der aber riss plötzlich, der Bruder fiel vom Dache herab und kam zu Schaden. Darüber wurde er böse, nahm das Fleisch nicht und ging nach Hause, wobei er sagte, dass sie dafür nächstens alle umkommen würden.

Solange nun noch Fleisch da war, lebten sie gut und im Überfluss, bald aber war das Fleisch zu Ende, und sie fingen an zu hungern. Da schickte die Mutter den kleinen Hasen zu ihrem Bruder, um von ihm Fleisch zu erbitten. Als jedoch der kleine Hase kam und zu bitten anfing, machte der Oheim ihm erst einmal Vorwürfe darüber, dass man ihm kein Fleisch gegeben, als es ihm ausgegangen war, dann aber begann er seine Schwester zu beschimpfen und erzählte, wie sie den kleinen Hasen zur Welt gebracht habe. Das war diesem doch zu viel, er ging fort, ohne etwas erhalten zu haben, zerschlug sich unterwegs mit Willen die Nase, liess sein Blut im Schnee gefrieren und brachte es seiner Mutter. Als die ihn fragte, was er gebracht habe, sagte er, der Oheim habe bereits alles Fleisch verzehrt, es sei nur noch Blut übriggeblieben, und dies schicke er ihr. Die Mutter machte sich gleich daran, einen Brei zu kochen, aber kaum hatte sie davon gegessen, ais sie auf der Stelle starb.

Der kleine Hase legte ihr das beste Kleid an, legte sie auf den Schlitten und fuhr sie davon. Alsbald fand er die Spur reicher Leute, die soeben denselben Weg gefahren waren; er fuhr ihnen nach und erblickte alsbald ihr Zelt. Er machte in dessen Nähe halt, zog die Mutter aus dem Schlitten und stellte sie neben ihm auf die Füsse, er selbst aber begab sich zum Zelte.

Man meldete dem Herrn, dass jemand gekommen sei, der ein kleiner Hase wäre. Der Herr meinte, es müsse ein guter Mensch sein, wenn er sich in einen Hasen verwandeln könne; er selbst wolle ihn begrüssen. Das tat er auch und führte ihn ins Zelt. Man kochte sofort Fleisch für ihn und begann ihn zu bewirten. Der kleine Hase aber ass nicht und sagte, es sei noch ein hungriger Reisegefährte da. Der Herr wollte selbst hingehn, allein der kleine Hase sagte, sein Gefährte leide an Schreckhaftigkeit, er könne fallen und zu Schaden kommen. Da schickte der Alte seine beiden Töchter. Die traten aus dem ZeIt und sahen eine stattlich gekleidete Frau. Sie riefen ihr zu, doch erhielten sie keine Antwort. Da gingen sie näher heran, fassten die Frau an den Händen und wolIten sie ins Zelt ziehen, allein die Alte fiel um. Da sprang der kleine Hase ans dem Zelt und sagte, sie hätten seine Frau umgebracht. Als Ersatz verlangte er von dem Alten dessen beide Töchter. Der Alte gab ihm darauf beide Töchter, und jeder von ihnen noch zwanzig Rentiere als Mitgift. Der kleine Hase kam nach Hause, beerdigte seine Mutter und lebte lange Zeit ganz gut mit seinen beiden Frauen. Als aber alle Rentiere aufgezehrt waren, fingen die Frauen an, Fallen für Schneehühner und Hasen aufzustellen, nur wollten sich keine Hasen fangen lassen. Da sagte die eine zur andern:

"Weshalb geraten keine Hasen in unsere Fallen? Vielleicht deshalb, weil unser Mann ein Hase ist."

Da hiess die andre sie schweigen und sagte, der Mann könne ihre Rede hören und ihnen zürnen.

Als sie am nächsten Tage die Fallen besichtigen gingen, fanden sie bereits in der ersten einen Hasen, brachten ihn nach Hause, kochten und verzehrten ihn.

Darauf warteten sie lange auf ihren Mann, er kam und kam nicht. Da erst verfielen sie auf den Gedanken, dass der gefangene Hase ihr Mann gewesen sei. Sie lebten nun nicht mehr lange dort sondern begaben sich zu fuss wieder zu ihrem Vater.

Quelle: Märchen aus Sibirien, Eugen Diederichs Verlag (Reihe Diederichs Märchen der Weltliteratur)

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