Der Hase

In alter Zeit war es finster auf Erden. Die bösen Geister stahlen die Sonne und brachten sie in ihr Haus, worauf sie mit ihr Ball spielten. Da sprach der Hase: "Lasst mich die Sonne zurückholen." Er kletterte auf das Zelt der Kele und blickte hinein, da sah er, wie sie mit der Sonne Ball spielten; darauf liess er sich von oben in das Zelt fallen.

"Oho, wir haben einen kleinen fetten Hasen erwischt!"
"Tut mir nichts zuleide", sprach der Hase, "ich will euch auch Öl in Menge geben."
"Wahrhaftig?"
"Wie viele Kessel besitzt ihr?"
"Zwei Kessel."

Da stiess der Hase die Sonne mit der Zehe, und sie sprang beinahe aus dem oberen Fenster hinaus, dann sprang er selbst in die Höhe, doch gelang ihm der Sprung nicht, und er fiel in das Zelt zurück.
"Oho, wir haben einen kleinen fetten Hasen erwischt!"
"Tut mir nichts zuleide, ich werde euch reichlich Öl geben."
"Wirklich?"
"Wieviele Kessel habt ihr?"
"Drei Kessel."

Da stiess er die Sonne, und sie fuhr aus dem Fenster, schoss hoch in die Luft und sass am Himmel fest. Vorher war sie beweglich gewesen. Dann sprang der Hase selbst aus dem Zelt und entfloh, von den Kele verfolgt.

Der kleine Hase kam auf seiner Flucht zum Adler.

"Ach, verbirg mich doch, ein Kele verfolgt mich."
"Gerne", sagte der Adler und verbarg ihn unter seinem rechten Flügel. Als dann der Kele vorbeikam, fragte er:
"Hast du nicht meinen kleinen Hasen gesehn?"
"Freilich", sagte der Adler, "er kletterte in die Höhe, gerade auf den Zenit zu."
"Wie könnte ich ihm wohl dahin folgen?"
"Steig nur auf meinen Rücken, ich werde dich schon hinaufbringen."

So trug denn der Adler den Kele in die Höhe. Nach längerer Zeit sagte er zu ihm:
"Sieh auf die Erde hinab. Wie gross scheint sie dir zu sein?"
"So gross wie ein grosser Teich,"
"Wir wollen dann noch höher fliegen."

Sie flogen weiter. "Sieh wiederum hinab. Wie gross ist die Erde jetzt?"
"So gross wie ein kleiner Teich."
"Dann wollen wir noch höher fliegen. Sieh zur Erde hinab, wie gross erscheint sie dir nun?"
"Ungefähr wie eine ausgebreitete Zeltwand."
"So wollen wir noch höher fliegen. Wie gross ist die Erde nun?"
"Wie das Fell eines Seehundes."
"Wir wollen noch höher fliegen. Wie gross siehst du die Erde jetzt?"
"So gross wie eine Schuhsohle."
"Jetzt sind wir unserm Ziele nah. Wie gross ist die Erde nun?"
"Wie die Flicken auf einer Sohle."
"Gleich sind wir angelangt. Wie gross mag die Erde nun sein?"
"Sie ist so gross wie das Wurmloch in einem Rentierfell. Jetzt ist sie ganz verschwunden."

"Ach, ich bin so müde, ich habe alle meine Kraft eingebüsst und mir den Rücken verrenkt." Mit diesen Worten warf der Adler den Kele ab, und der fiel, fiel, fiel. Schliesslich kam er unten auf der Erde an und fuhr kopfüber mit dem halben Körper in die Erde hinein.

Da sagte der Adler zu dem Hasen: "Dein Quälgeist ist beseitigt. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten, komm heraus und sieh nach ihm."

Der Hase verfertigte sich einen Steinhammer und eilte zu dem Kele. Da sah er, wie dessen Beine aus der Erde herausragten, und schlug ihn mit dem Steinhammer auf die Sohlen, so dass er ihn ganz und gar in die Erde trieb. Seit jener Zeit halten sich die KeIe nur unter der Erde auf.

Quelle: Märchen aus Sibirien, Eugen Diederichs Verlag (Reihe Diederichs Märchen der Weltliteratur)

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