Der freigebige Hase

Einstmals, als Brahmadatta zu Benares regierte, wurde der Bõdhisatta als Hase wiedergeboren und lebte im Walde. Auf einer Seite dieses Waldes waren die Vorhügel eines Gebirges, auf der anderen war ein Fluss und auf der dritten ein Grenzdorf. Der Bõdhisatta hatte drei Freunde, einen Affen, einen Schakal und eine Fischotter. Diese vier Weisen lebten nun zusammen, und wenn sie sich ihre Nahrung, ein jeder auf seinem eigenen Jagdgrund, gesucht hatten, kamen sie zur Abendzeit immer zusammen. Der weise Hase pflegte dann die drei anderen in der Lehre zu unterweisen, indem er sie ermahnte: "Man muss Almosen geben, die Gebote halten und die Fasttagsbräuche beobachten."

Sie nahmen seine Ermahnung gut auf, und jeder begab sich dann in den Teil des Dickichts, wo er seine Wohnung hatte, und blieb dort. So verging die Zeit. Da guckte der Bõdhisatta eines Tages in die Luft und sah den Mond. Und als er gesehen hatte, dass am nächsten Tage Fasttag sei, sagte er zu den drei anderen: "Morgen ist Fasttag. Feiert ihr drei den Fasttag, indem ihr das Gelübde, die Gebote zu halten, auf euch nehmt! Wenn einer sich fest an die Gebote hält, dann bringt das Geben von Gaben grossen Lohn. Wenn daher ein Bettler kommt, gebt ihm von eurer eigenen Mahlzeit und esset selbst erst hinterher!" Sie erklärten sich damit einverstanden, und jeder blieb in seiner Wohnstätte.

Am nächsten Tag am frühen Morgen zog von den vieren die Fischotter aus, um sich Futter zu suchen, und ging zum Ufer des Ganges. Da hatte nun ein Fischer sieben Rotkarpfen gefangen, hatte sie auf eine Rute gezogen, sie am Ufer des Ganges mit Sand bedeckt und schritt nun, Fische fangend, den Ganges abwärts. Die Otter spürte den Geruch der Fische, scharrte den Sand weg, entdeckte die Fische und zog sie heraus. Dann rief sie dreimal laut: "Gehören diese Fische jemandem?", und als sie keinen Eigentümer sah, packte sie die Rute mit den Zähnen und stapelte die Fische in dem Teil des Dickichts, wo sie ihre Wohnung hatte, auf. 'Erst wenn es an der Zeit ist, werde ich sie essen', dachte sie, und dann legte sie sich, über ihre Pflichterfüllung nachdenkend, nieder.

Auch der Schakal zog aus, um sich Futter zu suchen. Da sah er in der Hütte eines Feldhüters zwei Spiesse mit Fleisch, eine Eidechse und einen Topf Dickmilch. Dreimal rief er laut: "Gehört dies jemandem?", und als er keinen Eigentümer sah, tat er sich den Strick zum Tragen des Dickmilchtopfes um den Hals, packte mit dem Maule die Fleischspiesse und die Eidechse, schleppte sie fort und stapelte sie in dem Teil des Dickichts, wo er seine Wohnung hatte, auf. 'Erst wenn es an der Zeit ist, werde ich sie essen', dachte er, und dann legte er sich, über seine Pflichterfüllung nachdenkend, nieder.

Auch der Affe ging in den Wald und holte sich ein Bündel Mangos und stapelte es in dem Teil des Dickichts, wo er seine Wohnung hatte, auf. 'Erst wenn es an der Zeit ist, werde ich sie essen', dachte er, und dann legte er sich, über seine Pflichterfüllung nachdenkend, nieder. Der Bõdhisatta aber legte sich mit dem Gedanken 'Erst wenn es an der Zeit ist, werde ich ausgehen und Kusagras fressen' auf sein Lager. 'Wenn Bettler zu mir kommen', dachte er, 'kann ich ihnen unmöglich Gras geben, auch habe ich keinen Sesam, keinen Reis oder sonst etwas. Wenn ein Bettler zu mir kommt, werde ich ihm das Fleisch meines eigenen Körpers geben.'

Durch die Macht seiner Pflichterfüllung aber zeigte der mit einer weissen Wolldecke versehene Steinsitz Sakkas Zeichen von Hitze. Nach einigem Nachdenken erkannte Sakka die Ursache und beschloss, den Hasenkönig auf die Probe zu stellen. Er ging zuerst nach dem Orte, wo die Otter wohnte, und stellte sich in der Gestalt eines Brahmanen hin. "Brahmane, warum stehst du hier?" fragte die Otter. "Weiser, wenn ich etwas Speise bekommen könnte, würde ich den Fasttag halten und so die Asketenpflichten erfüllen können." - "Gut", antwortete jene, "ich werde dir Speise geben", und im Gespräch mit ihm sprach sie den ersten Vers:

"Sieben rote Karpfen hab' ich
aus dem Fluss ans Land gebracht.
Das, Brahmane, kann ich bieten.
Iss und bleib im Wald zur Nacht!"

"Lass es nur bis morgen früh", antwortete der Brahmane, "ich werde später daran denken", und ging zum Schakal. Auch der fragte: "Brahmane, warum stehst du hier?", und der andere erwiderte ebenso. "Gut", sagte der Schakal, "ich werde dir etwas geben", und im Gespräch mit ihm sprach er den zweiten Vers:

"Die Eidechs', ein Topf saurer Milch,
zwei Spiesse Fleisch, das Mahl,
Zur Nacht bestimmt, das ich mit List
dem Dorfflurhüter stahl,
Das biet' ich dir, Brahmane. Iss
und bleib im Waldestal!"

"Lass es nur bis morgen früh", antwortete der Brahmane, "ich werde später daran denken", und ging zum Affen. Auch der fragte: "Brahmane, warum stehst du hier?", und der andere erwiderte ebenso. "Gut", sagte darauf der Affe, "ich gebe dir etwas", und im Gespräch mit ihm sprach er den dritten Vers:

"Reife Mangos, kaltes Wasser,
Schattenkühl' an schöner Halde,
Das, Brahmane, kann ich bieten.
Iss und bleib zur Nacht im Walde!"

"Lass es nur bis morgen früh", antwortete der Brahmane, "ich werde später daran denken", und ging zu dem weisen Hasen. Auch der fragte: "Warum stehst du hier?", und der andere erwiderte ebenso. Als der Bõdhisatta das hörte, sagte er erfreut: "Brahmane, du hast wohl daran getan, dass du um Speise zu mir gekommen bist. Jetzt werde ich dir eine Gabe geben, wie ich sie noch nie gegeben habe. Du aber sollst den Geboten getreu kein Leben vernichten. Geh, Lieber, suche Holz auf, mache ein Kohlenfeuer und sag es mir an! Mich selbst opfernd, will ich mitten in die Kohlen springen; du aber sollst, wenn mein Leib gebraten ist, das Fleisch essen und die Asketenpflichten erfüllen", und im Gespräch mit ihm sprach er den vierten Vers:

"Keinen Sesam hat der Hase,
keinen Reis und keine Bohnen.
Brat mich selbst an diesem Feuer!
Iss und bleib im Walde wohnen!"

Als Sakka seine Worte gehört hatte, schuf er durch seine übernatürliche Macht einen Kohlenhaufen und meldete es dem Bõdhisatta. Der erhob sich von seinem Lager aus Kusagras und ging dorthin. "Wenn kleine Tiere in meinen Haaren sind, sollen sie nicht umkommen", sagte er und schüttelte sich dreimal, und dann brachte er seinen Körper als Gabe dar. Er sprang auf, und wie ein Königsschwan in eine Lotusgruppe stürzte er heiteren Sinnes in den Kohlenhaufen hinein. Das Feuer aber konnte nicht einmal eine Haarpore am Körper des Bõdhisatta heiss machen. Es war, als ob er in Schnee gesprungen wäre. Da wandte er sich an Sakka und sagte: "Brahmane, das Feuer, das du angemacht hast, ist überkalt. Es kann nicht einmal eine Haarpore an meinem Körper heiss machen. Was bedeutet das?" - "Weiser, ich bin kein Brahmane. Ich bin Sakka, der gekommen ist, um dich auf die Probe zu stellen." Da stiess der Bõdhisatta den Löwenruf aus. "Wenn auch ausser dir, Sakka, die ganze Welt mich wegen meiner Freigebigkeit auf die Probe stellte, so würde sie mich nicht unwillig zum Geben finden." - "Weiser Hase", sagte Sakka zu ihm, "deine Tugend soll ein ganzes Weltalter hindurch bekannt sein." Und damit zerquetschte er einen Felsen und zeichnete mit dem Saft des Felsens das Bild des Hasen in die Mondscheibe. Dann verabschiedete er sich von dem Bõdhisatta, bettete ihn auf das zarte Kusagras dort im Dickicht jenes Waldes und ging wieder nach seinem Göttersitze. Die vier Weisen aber lebten einträchtig zusammen, erfüllten die Gebote, beobachteten die Fasttagsbräuche und fuhren dahin nach ihren Werken.

Quelle: Buddhistische Märchen, rororo-Verlag (Reihe Diederichs Märchen der Weltliteratur)

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